Gesundheit 2025: Die Zukunft ist vernetzt und regional
date
20. September 2021
AUTOR
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt | OptiMedis
Gastbeitrag von Dr. h. c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG
Die Integrierte Gesundheitsversorgung hat sich hierzulande nicht so entwickelt, wie erhofft. Zwar gibt es einige Erfolgsprojekte, die zeigen, dass Kooperation und Integration mit einem Fokus auf Prävention, Gesundheitsförderung und -erhaltung sowie Digitalisierung zu einer verbesserten Gesundheit und erhöhter Effizienz führen. Und auch die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig regionale Vernetzung und effiziente Strukturen vor Ort sind. Eine bundesweite Umsetzung scheint dennoch weit entfernt zu sein.
Eine Gruppe renommierter Expert:innen aus dem Gesundheitswesen möchte dies nun ändern und hat ein umfassendes Konzept für „Innovative Gesundheitsregionen“ entwickelt. Ziel ist der Aufbau einer nachhaltigen, bedarfsgerechten, robusten und gleichzeitig fairen, integrierten Gesundheitsversorgung in einer wachsenden Zahl von Regionen und – in einer überschaubaren Zeit – als Regelversorgung für ganz Deutschland. Seit der Veröffentlichung Mitte 2020 wird das Konzept intensiv diskutiert, gleichzeitig wird der Rückhalt immer größer: Immer mehr Entscheider:innen im Gesundheitswesen sind überzeugt davon, dass es eine neue Form der Regelversorgung geben muss und fordern mit Blick auf die neue Legislaturperiode ein starkes politisches Signal in Richtung einer Regionalisierung von Gesundheitsentwicklung und -verantwortung, wie sie beispielsweise im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen beschrieben ist.
Ein „Mehr“ an Gesundheit wird belohnt
Schwerpunkt des Konzepts ist ein Geschäftsmodell, das die „Produktion“ von Gesundheit belohnt. Bisher werden die finanziellen Mittel im deutschen Gesundheitswesen nach dem „Kostendeckungsprinzip“ verteilt. In der Ökonomie ist jedoch hinreichend bekannt, für welche Anreize eine Preisfestsetzung oder -verhandlung auf der Basis von angenommenen oder festgestellten Kosten sorgt: Die Leistungserbringer erhalten einen Anreiz, ihre Leistungsmenge zu erhöhen und möglichst große Zusammenschlüsse zu bilden, um wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Parallel erhalten sie damit den Anreiz für die interne Kostenminimierung, und die gelingt am besten durch Verknappung der eingesetzten Arbeitszeiten teurer Arbeitskräfte und deren Ersetzung durch möglichst niedrig bezahlte Arbeitskräfte. Der Gedanke von so genannten „Regionalbudgets“ setzt auf die Umkehr der Anreizsystematik – weg von „Volume“ (Menge) hin zu „Value“ (Nutzen).
In Deutschland gibt es bereits Regionen, in denen solche Modelle umgesetzt sind. So hat die 2005 gestartete Gesundes Kinzigtal GmbH für die Versicherten der AOK Baden-Württemberg und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) im Kinzigtal als Integrator eine „virtuelle Budgetmitverantwortung“ übernommen. Die GmbH wird belohnt, wenn sich die Kosten der Versicherten beider Krankenkassen für alle Sektoren der Versorgung im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt positiv entwickeln. Sie erhält dann einen Bonus als Anteil an dem erreichten Gewinn der Kassen. Die Ärzt:innen können frei entscheiden, ob sie bei dem Modell mitmachen und werden in jedem Fall auch weiterhin über die Kassenärztliche Vereinigung vergütet. Sie erhalten aber zusätzliche Vergütungen von der Gesundes Kinzigtal GmbH.
Der Integrator – hier die Gesundes Kinzigtal GmbH – hat bei diesem Modell also das Interesse, die Bevölkerung in der Region möglichst gesund zu erhalten beziehungsweise Erkrankungen, sofern möglich, ambulant zu behandeln. Ist ein Patient auf eine stationäre Leistung angewiesen, hat der Integrator hingegen ein Interesse ihn möglichst effizient in dem am besten dafür geeigneten Krankenhaus behandeln zu lassen. Ähnliche Modelle werden im „Gesunden Werra-Meißner Kreis“ und im „Gesunden Schwalm-Eder-Kreis+ umgesetzt und dienten den Autor:innen des Konzepts für „Innovative Gesundheitsregionen“ als Vorbild.
Regionale Integrationseinheiten schließen Verträge mit Krankenkassen
„Innovative Gesundheitsregionen“ sind dem Konzept zufolge Landkreise oder Stadtbezirke, für deren Bevölkerung jeweils ein eigener Vertrag zwischen möglichst allen Krankenkassen (auch den privaten Krankenversicherern) und einer lokalen, für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Gesellschaft geschlossen wird, der so genannten „Regionalen Integrationseinheit“, die z. B. von Akteuren vor Ort gegründet werden kann. Die Bevölkerungszahl der Regionen sollte jeweils zwischen 100.000 und 200.000 liegen, damit die Versorgung gut steuerbar bleibt.
Die „Regionalen Integrationseinheiten“ sollen die Bevölkerung im Verbund mit lokalen Gesundheitsakteur:innen beim Erhalt der Gesundheit bestmöglich unterstützen. Sie sollen die Versorgung so gut vernetzen und Akteure integrieren, dass die Bevölkerung im Krankheitsfall gut aufgehoben ist. Immer dann jedoch, wenn es digitale Anwendungen bzw. überregionale Versorgungsstrukturen gibt, welche nachweislich zu besseren Ergebnissen führen, sollen diese bevorzugt werden. Für das Ergebnis, also für den erzeugten Gesundheitsnutzen, werden die Regionalen Integrationseinheiten wirtschaftlich belohnt – und nicht für die Anzahl der Leistungen wie die Leistungserbringer im heutigen Gesundheitswesen.
Initiiert wird die Gründung der „Regionalen Integrationseinheiten“ von regionalen Gesundheitskonferenzen unter Beteiligung der Bevölkerung oder auch von den demokratisch gewählten Gremien. Zudem sollen sie diesen und den Krankenkassen gegenüber auch rechenschaftspflichtig sein. Die Rechenschaftspflichten und die Vergütung aus dem Erfolg werden in regionalen Integrationsverträgen geregelt. Darin sind auch die Form der Anschubfinanzierung über einen „Zukunftsfonds Innovative Gesundheitsregionen“ und die spätere Rückzahlungspflicht definiert.
Die Kernelemente des Konzepts im Überblick
- Regionale, professionell aufgestellte Gesundheitskonferenzen übernehmen mit den jeweiligen Landkreisen bzw. kreisfreien Städten eine Schlüsselrolle: Sie erhalten regionale Gesundheitsdaten zur Versorgungsplanung und initiieren Verträge zwischen Regionalen Integrationseinheiten und Krankenkassen.
- Die Regionalen Integrationseinheiten schließen mit den Krankenkassen Verträge über das Management von Prävention, Behandlung und Rehabilitation vor Ort nach einem vorgegebenen Vertragsmodell. Die Vergütung ist an das Gesundheitsergebnis gebunden; sie bemisst sich aus der relativen Verringerung der Kostensteigerung in der Region sowie an Qualitätskennziffern.
- Aus einem eigens zu gründenden „Zukunftsfonds Innovative Gesundheitsregionen“ erhalten die Integrationseinheiten als durchlaufender Posten durch die Krankenkassen eine Anschubfinanzierung, die ab dem 11. Jahr zurückgezahlt wird. Dieser Zukunftsfonds ermöglicht es privaten Anlegern analog zu Staatsanleihen, in die Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems zu investieren, und damit für die Jahre ab 2035 vorzusorgen.
- Ein bundesweites Monitoring macht die Ergebnisse transparent und führt zu einem Wettbewerb der Regionen und der Krankenkassen um die beste Gesundheitsversorgung vor Ort.
- Sowohl Patienten als auch Akteuren steht es frei, an den integrierten Versorgungslösungen teilzunehmen.
Diese Umkehr des Geschäftsmodells im Gesundheitswesen hat zahlreiche Vorteile:
- Für die lokalen Kommunen und Landkreise entsteht der Vorteil, dass die Regionale Integrationseinheit den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Prävention und Gesundheitsförderung aus eigenem Interesse heraus unterstützen wird.
- Die lokalen Betriebe, also Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, haben in der Integrationseinheit einen Partner für das betriebliche Gesundheitsmanagement.
- Die Beitragssätze für die Krankenkassen können stabilisiert werden bzw. werden zumindest auf längere Sicht nicht in dem Maße steigen, wie es ansonsten unter den heutigen Bedingungen zu erwarten ist.
- Innovationen – ob aus dem digitalen, medizintechnischen oder pharmazeutischen Bereich – finden über die Regionalen Integrationseinheiten den Weg in die Versorgung, wenn sie zum Gesundheitsnutzen der Bevölkerung beitragen.
- Für die Menschen der Region wird die Versorgung in höherem Maße als bisher gesichert. Der Integrator wird aus eigenem Interesse heraus für eine gute lokale Versorgung sorgen, da hohe Kosten für eventuelle Notarzteinsätze indirekt zu seinen Lasten gingen.
Die entscheidende Rolle der Region
Der Gedanke einer „Re-Regionalisierung“ der Verantwortlichkeiten für Gesundheit und Gesundheitsversorgung könnte für manch einen wie ein Rückschritt klingen. Jedoch wollen wir damit aber weder zurück in alte Machtgefüge noch die Vorteile der Zentralisierung aufgeben. Ganz im Gegenteil: Wir plädieren dafür, die Digitalisierung optimal zu nutzen und gleichzeitig die Nachteile der Zentralisierung – u. a. die Erfahrung zunehmender Ohnmacht vor Ort und einer Überbürokratisierung von Entscheidungsprozessen bis hin zu einer ersatzweisen Übernahme von Mikromanagement durch die Bundesgesetzgebung – durch die zusätzliche Nutzung der Möglichkeiten regionaler Selbstverwaltung und unternehmerischer Selbstbestimmung ausgleichen. Nur auf einer überschaubaren Ebene lässt sich agiles Management entwickeln und kein zentraler Ausschuss muss entscheiden, ob ein lokaler Sportverein für ein besonderes Angebot für Hochaltrige einen finanziellen Zuschuss erhält. Oder wie eine digitale Innovation z. B. in Eschwege die Versorgung optimiert und wie sie finanziert wird.
Zielmarke: 2025 zehn Prozent der Versorgung über Gesundheitsregionen
Der Vorschlag der Autoren-Gruppe erfordert erhebliche Veränderungen in der Bundes- und Ländergesetzgebung. Und er würde das Gesundheitswesen in Deutschland gravierend verändern. Aber wir sehen darin eine reelle Chance – hin zu einer nachhaltigen, bedarfsgerechten, robusten und gleichzeitig fairen, integrierten Gesundheitsversorgung in einer wachsenden Zahl von Regionen und – in einer überschaubaren Zeit – als Regelversorgung für ganz Deutschland. Für den Beginn schlagen wir eine Zielmarke vor: Zehn Prozent der Bevölkerung sollen 2025 in den Genuss der Versorgung nach dem „Gesundheitsregionen“-Modell kommen.
Für die weitergehende Diskussion wurde auf Linkedin eine Diskussionsplattform geschaltet www.linkedin.com/groups/9029235/.
Herausgeberband „Zukunft Gesundheit“ zum Thema
Die Gesamtfassung des Konzeptes “Integrierte Versorgung – Jetzt”, das zuvor in der Zeitschrift “Welt der Krankenversicherung” (WdK) veröffentlicht wurde, ist unter diesem Link abrufbar.
Im August ist im medhochzwei Verlag der Herausgeberband “Zukunft Gesundheit – regional, vernetzt, patientenorientiert” erschienen, erhältlich über diesen Link. Er enthält das Konzept zu „Innovativen Gesundheitsregionen“ und bündelt die aktuelle Diskussion um die Zukunft der Gesundheitsversorgung. Namhafte Autoren haben ihre Expertise zu wichtigen Fragen beigesteuert.